Fachkräftemangel: Quereinsteiger als Chance

Der Fachkräftemangel bereitet Unternehmen und Personaler*innen auch im Jahr 2022 noch Kopfzerbrechen. Können Quereinsteiger und Quereinsteigerinnen die unverhofften Held*innen der globalen Jobkrise sein? Hier lesen Sie, warum sich das Einstellen branchenfremder Talente lohnen kann.

Das Jahr 2022 hat noch nicht ganz die Hälfte erreicht, die Bilanz für den Arbeitsmarkt ist bis dato ambivalent: Einerseits verzeichnet man hierzulande trotz anhaltender Pandemie wieder einen Wirtschaftswachstum und wahrhaften Job-Boom. Die andere Seite der Münze ist der zunehmende Fachkräftemangel. Können Quereinsteiger*innen im Beruf den Weg aus der Krise ebnen?

 

Quereinsteiger als Chance gegen den Fachkräftemangel

Mehr als ein Drittel österreichischer Unternehmen unterschiedlicher Branchen haben große Schwierigkeiten geeignete qualifizierte Fachkräfte zu besetzen, laut dem AMS kommen derzeit auf eine arbeitslose Person durchschnittlich 1,5 offene Stellen. Besonders stark betroffen von dieser „Arbeiterlosigkeit“ sind mittelständische Betriebe und die IT- sowie Gesundheitsbranche. Stepstone Österreich Geschäftsführer Nikolai Dürhammer dazu:

„Der Personalmangel ist ein langanhaltender Trend, der sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten fortsetzen wird.“

Die Hintergründe dieser Entwicklung sind vielfach, neben dem oft zitierten demografischen Wandel in der Bevölkerung haben die Globalisierung und Digitalisierung zur Transformation von Berufsanforderungen und Arbeitsstrukturen geführt. Der Kern des Problems ist, dass die Erwartungen von Arbeitnehmer*innen und die Anforderungen bzw. Angebote von Arbeitgeber*innen immer weiter auseinanderklaffen.

 

Silent resignation und Jobwechsel-Konjunktion

Das Ergebnis sind weltweite Kündigungswellen und eine steigende Bereitschaft zum Job- oder sogar Branchenwechsel. Eine aktuelle Stepstone Befragung hat ergeben, dass 35 % der Menschen mehrmals pro Woche oder sogar täglich über einen Jobwechsel nachdenken. In Zeiten eines neuen, flexiblen Arbeitnehmer*innenmarkts müssen Unternehmen und HR-Verantwortliche vor allem eine bis dahin übersehene Gruppe in den Fokus nehmen: Quereinsteiger*innen. 

 

 

Definition: Was ist ein Quereinsteiger?

Als Quereinsteiger*innen werden Personen bezeichnet, die in ein neues Betätigungsfeld bzw. eine fremde Branche wechseln, ohne dafür eine (berufliche) Ausbildung absolviert zu haben. Obwohl besonders Führungskräfte häufig keine geradlinigen Karrierewege haben, werden Bewerber*innen ohne passgenaue Qualifikationen im Recruitingprozess immer noch stiefmütterlich behandelt. Abgesehen vom Makel fehlender Zeugnisse oder Referenzen wird Seiteneinsteiger*innen etwa nachgesagt, sprunghaft und unzuverlässig zu sein.

 

Vorteile durch Quereinsteiger*innen: Motivation, Innovation und Diversität

 In der heutigen agilen Wirtschaft und Arbeitswelt verlieren starre Strukturen und Routineaufgaben kontinuierlich an Bedeutung. Die Automatisierung von Teilbereichen, neue Technologien sowie Berufe weichen klassische Einstellungskriterien auf und fordern stattdessen Soft Skills wie Lernkompetenz, Problemlösungsfähigkeit und Flexibilität. Also Fähigkeiten und Werte, die für Quereinsteiger*innen ebenso essenziell sind. Hinter dem Job- und Branchenwechsel steht nicht selten großes Interesse am neuen Bereich und damit verbunden hohe Motiviertheit sowie Engagement.

 

Darüber hinaus bringen branchenfremde Kandidat*innen einzigartige Perspektiven und Know-How ein, die Betriebsblindheit entgegenwirken und neue Märkte erschließen können. Heterogene, multidisziplinäre Teams erhöhen die Diversität des Unternehmens und kurbeln Innovation und Erfolg an, wie der Stepstone Diversity Report 2021 verdeutlicht.    

 

Nachteile: Einarbeitungszeit, Kosten, Risiko

 Aufgrund von fehlenden Kenntnissen des Fachgebiets, Produkts etc. benötigen Seiteneinsteiger*innen meist eine längere Einarbeitungszeit als neue Mitarbeiter*innen mit Branchenerfahrung. Für Arbeitgeber*innen bedeutet dies mehr Zeit- und Kostenaufwand, sowohl für vertiefende Onboarding-Maßnahmen als auch zusätzliche Schulungen und Weiterbildungen. Fraglich ist, wie hoch vergleichsweise die finanziellen und leistungsbezogenen Verluste bei einer langwierig unbesetzten Stelle ausfallen.

Quereinsteiger*innen einzustellen birgt insofern zusätzliche Risiken, wenn es durch mangelnde Einarbeitung zu Fehlern, Teamkonflikten oder erhöhtem Leidensdruck kommt.  

 

Wie findet man passende Quereinsteiger?

Quereinsteiger*innen können Katalysatoren für die zeitgemäße Transformation von Unternehmen sein. Um sie zu finden und zu halten genügt es jedoch nicht, Seiteneinsteiger*innen wörtlich in der Stellenanzeige zu erwähnen oder als Alternativbesetzung zu tolerieren. Das Mindset eines Betriebs muss sich nachhaltig verändern und dafür ist es notwendig, dass HR, Führungskräfte und Team an einem Strang ziehen.

 

Recruiting nach Kompetenzen statt nach Schlagwörtern

Der geläufige Katalog an Anforderungen und nötigen Qualifikationen für bestimmte Jobpositionen beruht auf einem System, das für die Bedürfnisse der heutigen Berufswelt nicht mehr eins zu eins anwendbar ist. Statt Lebensläufe nach Fachkenntnissen, formellen Abschlüssen, Branchenexpertise und Berufsjahren abzuscannen sollten Personaler*innen hinterfragen, welche Kompetenzen und Werte Kandidat*innen benötigen um langfristig erfolgreich in ihrer Rolle sowie im Unternehmen zu sein.

 

So erkennen Sie das Potenzial von Quereinsteigern

Potenziale und Kompetenzen von Bewerber*innen zu ermitteln ist dabei leichter gesagt als getan, da auch Jobsuchende immer noch auf traditionelle Qualifikationen und Karrierechancen konditioniert sind. Active Sourcing auf digitalen sowie realen Kanälen wird zukünftig eine noch stärkere Rolle im Recruiting spielen, ebenso flexiblere Karrierewege innerhalb von Unternehmen.

Innovative HR-Tools und Best Practices können Personaler*innen dabei unterstützen, Quereinsteiger*innen mit passenden Kompetenzen und Soft Skills ausfindig zu machen. Dank Internet und Big Data sind KI-basierte Programme in der Lage, ganzheitliche Potenzialanalysen auszuführen und selbst passive Kandidat*innen gezielt zu erreichen.

 

Ältere Quereinsteiger und Autodidakt*innen mit Berufserfahrung haben Mehrwert

Personalentscheider*innen benötigen, so wie alle Mitglieder eines Unternehmens, regelmäßig Trainings für Diversity Management oder Überwindung von Unconscious Bias (unbewusste Denkmuster). Speziell Quereinsteiger*innen im höheren Alter werden gern übersehen, obwohl sie durch persönliche Entwicklung und jahrelange, vielfältige Erfahrung einen wertvollen Beitrag für Unternehmen leisten können.

Noch besser stehen die Voraussetzungen, wenn Kandidat*innen sich bereits privat mit der Branche oder den Unternehmensschwerpunkten vertraut gemacht hat. Nicht nur die sogenannte Generation Z hat gelernt, alternative oder Online-Weiterbildungsangebote zu nutzen, um Fähigkeiten eigenständig zu erwerben. Berufserfahrene Autodidakt*innen arbeiten sich mitunter schneller und besser in neuere Bereiche ein als spezialisierte Studienabgänger*innen und bringen noch dazu Eigeninitiative sowie Interesse mit.

 

In diesen Berufen sind Quereinsteiger besonders willkommen 

Verschiedene Faktoren können dazu beitragen, dass Quereinsteiger*innen in bestimmten Branchen oder Regionen verstärkt gesucht und gefördert werden. Für relativ neue Berufe, die etwa durch die Digitalisierung oder neue Technologien entstanden sind, existieren zum Beispiel wenige oder keine Ausbildungsangebote. Manche Jobs sind sogar prädestiniert für Seiteneinsteiger*innen, meint Stepstone Karriere-Expertin Inga Rottländer: „Quereinsteiger*innen sind oft besonders in Berufen gefragt, in denen Persönlichkeit und Motivation eines Menschen erfolgsentscheidender sind als eine bestimmte Qualifikation, etwa in Kundenbetreuung oder Personal.“

 

Quereinsteiger in Hotellerie und Gastronomie

Die Hotellerie und Gastronomie ist eine der Branchen, die vom Arbeitskräftemangel am stärksten betroffen sind und das, obwohl der persönliche Kontakt mit Kund*innen extrem bereichernd sein kann. Die Offenheit gegenüber Quereinsteiger*innen ist demnach hoch, wenn diese lernbereit, gäste- & serviceorientiert, stressresistent und teamfähig sind, sowie ein gutes Gedächtnis und Zahlenverständnis besitzen. Zudem sorgen Quereinsteiger*innen immer wieder für Furore, wie beispielsweise die Gastro-Karriere der Sizilianerin Anna Sgroi. Die gelernte Friseurin entwickelte einen unverwechselbaren Stil, der von Gault-Millau über zwei Jahrzehnte mit einem Stern honoriert wurde.

Quereinsteiger in Technik und IT

Die IKT-Branche ist besonders vom Fachkräftemangel betroffen – in Deutschland fehlen momentan rund 100.000 IT-Fachkräfte, Österreich trifft es verhältnismäßig mit 24.000 unbesetzten Arbeitsplätzen noch schwerer. Unter den auf Stepstone am meisten ausgeschriebenen Stellen rangieren Techniker*innen und Ingenieur*innen an der Spitze, gefolgt von IT-Expert*innen und Softwareentwickler*innen. Da dieser Zustand schon länger anhält, sind Tech-Unternehmen mittlerweile sehr offen für Quereinsteiger*innen und On-The-Job-Training.

Quereinsteiger in Sozialen Berufen und Pflege

Der Bedarf an Fachkräften im Sozialbereich ist seit der Corona-Pandemie noch einmal in die Höhe geschnellt, dazu kommt die globale Überalterung der Gesellschaft. Die Einsatzbereiche für soziale Berufe variieren von Mobilen Diensten, Tages- und 24-Stunden-Betreuungen bis hin zu Krankenhäusern oder Senior*innen- und Pflegeeinrichtungen. Quereinsteiger*innen wird der Berufswechsel durch zahlreiche Kurzausbildungen und berufsbegleitende Kurse erleichtert.

Quereinsteiger in der Lehre

Engpässe bei Lehrpersonal wurden bislang durch Überstunden und Sonderverträge für pensionierte Lehrer*innen oder fachverwandte Akademiker*innen abgefangen. Der steigende Mangel in den MINT-, Sport- und Kreativfächern hat nun neue politische Maßnahmen auf den Plan gerufen: In Österreich soll bald die Verordnung „Quereinstieg neu“ in Kraft treten, die Kandidat*innen aus anderen Studienrichtungen ohne pädagogische Vorkenntnisse gezielt fördert. Das Fellowship-Programm „Teach for Austria“ bietet schon seit einigen Jahren eine spezielle Kurzausbildung für Quereinsteiger*innen im Lehrberuf an.

 

Quereinsteiger intern aus- und weiterbilden

Ein gewichtiger Punkt in der nachhaltigen Akquise und Bindung von Quereinsteiger*innen wird das unternehmensinterne Angebot für Aus- und Weiterbildung sein. Während hierzulande noch schlecht bezahlte Praktika oder Lehrstellen große Bewerber*innengruppen ausschließen, ist On-The-Job-Training in Ländern wie Großbritannien Standard. Solche Trainings können etwa als Schnellausbildung vorab oder in Form von begleitenden, intensiv betreuten Ein- und Umschulungsprogrammen erfolgen. Mögliche Mehrkosten rentieren sich auf Dauer in Form von ehrgeizigen, anpassungsfähigen und aktuell informierten Mitarbeiter*innen.

 

Nicht zu unterschätzen sind außerdem die Lernbereitschaft und Flexibilität bereits angestellten Personals, laut einer Stepstone Studie sind in Deutschland sogar 92 % der Befragten willig, sich umschulen zu lassen. Upskilling, Reskilling, Programme für lebenslanges Lernen und internes Recruiting sollten daher aktiv gefördert und angeboten werden.

 

 Fazit: Eine Lanze für Quereinsteiger brechen

 Der Fachkräftemangel ist im Grunde das Auge eines Sturms, der sich für den Arbeitsmarkt schon länger zusammenbraut. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, liegt es nun an den Unternehmen, flexibler und offener gegenüber anderen Arbeitsweisen und neuartigen Bewerber*innenprofilen zu werden.

Quereinsteiger*innen dürfen nicht mehr als Bewerber*innen zweiter Klasse gelten, denn am Papier perfekte Qualifikationen können persönliche, erprobte Kompetenzen nicht ersetzen. Gibt man Seiteneinsteiger*innen eine Chance, übertrumpft ihr Mehrwert für das Unternehmen das mögliche Risiko zu scheitern – welches bei Neueinstellungen ohnehin existiert.

 

Autorin: Barbara Oberrauter-Zabransky
Bildnachweis: iStock/Mknoxgray

 

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