Recruiting-Stratege warnt: Silo-Denken blockiert und macht effizientes Recruiting quasi unmöglich

Ein Experteninterview mit Strategie-Berater Michael Witt von Lebenswelt Recruiting und dem Employer Branding Experten Ralf Tometschek von bold position® über Recruiting-Herausforderungen und erfolgreiche Strategien für 2026.

Recruiting muss effizienter werden – so die Forderung. Was sind eurer Erfahrung nach die größten Effizienzhemmnisse im Recruiting?

Porträt Corina Staniek

Ralf Tometschek: Was effizientem Recruiting aktuell am meisten im Weg steht, ist ‚Silo-Denken‘ – aus meiner Sicht der Kardinalfehler im Recruiting. Jeder sitzt in seinem Silo und arbeitet nach bestem Wissen und Gewissen – da entsteht auch gute Qualität. Aber es könnte besser sein, wenn man aufeinander zugeht. Das Zusammendenken: Was ist die Aufgabe des Employer Branding, wo ist HR-Marketing gefordert, wo ist Recruiting in dieser Einbettung? Das auf Organisationsebene nicht zu betrachten, ist der größte Fehler.

Mein Tipp an Recruiter*innen: Nehmt die Fachabteilungen viel mehr in die Pflicht. Von ihnen müssen die Informationen kommen, mit denen ihr die Stellenanzeigen optimieren könnt. Wir führen seit Jahren Content-Interviews gemeinsam mit Hiring Managers, Stelleninhabern und Recruiting und sehen dadurch wirkliche Top-Ergebnisse. Dahinter liegt aber noch etwas anderes als die reine Stellenanzeigenoptimierung: der Informationsaustausch auf Augenhöhe zwischen Recruiting und Fachabteilung. Das ist der Kipppunkt – wenn das nicht funktioniert, wird es für Recruiting ungleich schwer.

[…] der Informationsaustausch auf Augenhöhe zwischen Recruiting und Fachabteilung. Das ist der Kipppunkt – wenn das nicht funktioniert, wird es für Recruiting ungleich schwer.

Ralf Tometschek, Employer Branding Experte und Mitgründer von bold position®

Wie stellt man also sicher, dass Recruiting effizienter wird?

Michael Witt: Recruiting-Prozess, Kanal, Experience – genau in dieser Reihenfolge. Erstmal Recruiting-Prozess optimieren, dass er funktioniert, alle eine Rolle haben, Verantwortlichkeiten geklärt sind. Dann gute Stellenanzeigen und gutes Kanalportfolio mit Kennzahlen zum Auswerten. Dann Candidate Experience – wie gehe ich sauber mit meinen Leuten um? Dann habe ich ein Recruiting, das mit Sicherheit deutlich besser ist als der Großteil der anderen.

Wir drehen den Spieß um: Die Fachbereiche müssen wieder in die Pflicht genommen werden – sie müssen für Qualität im Recruiting Zeit investieren. Und wir positionieren Recruiting als businessrelevante Stelle, die nicht nur Vakanzen füllt, sondern Personen rekrutiert, die ganz klar auf den Projekterfolg und damit den Business-Erfolg einzahlen..

Wir drehen den Spieß um: Die Fachbereiche müssen wieder in die Pflicht genommen werden – sie müssen für Qualität im Recruiting Zeit investieren.

Ralf Tometschek

Welche Skills braucht diese Person? Wie wird ihr Arbeitsalltag aussehen? Was erlebe ich in dem Job für einen Purpose? Welche Rollen und Aufgaben sind wirklich zu erfüllen? Um gute Stellenanzeigen, Anforderungsprofile und Karriereseiten zu erstellen, brauchen wir genau darauf Antworten aus den Fachbereichen. Einen Senior-Projektmanager interessiert nicht, was Projektmanagement allgemein ist – den interessiert, wie Projektmanagement dort gelebt wird, wie die Projekte hier aussehen, an wen er reportet. Je besser dieser Austausch, je klarer diese Inhalte, desto effizienter ist Recruiting.

Das Grundlegende Problem ist demnach eine falsche Positionierung von Recruiting im Unternehmen?

Silo-Denken blockiert und macht effizientes Recruiting quasi unmöglich. Ich sehe aber einen Wandel vom operativen zum strategischen Recruiting. In der Post-Corona-Ära, wo die Stellenanzeigen nach oben schossen, war alles sehr operativ geprägt. Es ging ausschließlich um Kanalportfolios, Interview Guidelines, die richtigen Tools – diese Recruiting-Basics sind immer noch wichtig, keine Frage. Heute geht es aber zunehmend um die Frage, wie sich Recruiting im Unternehmen organisiert und positioniert: Sind wir richtig aufgestellt, haben wir die richtige Personalgröße, die richtigen Skills?

Wie werden Entscheidungen getroffen, haben wir genug Austausch mit den Fachabteilungen, welchen Stellenwert hat Recruiting im Unternehmen und wie können wir die Sichtbarkeit von Recruiting als businessrelevante Serviceabteilung verbessern?

Jetzt geht es in Richtung Nachhaltigkeit: Die Organisationen haben gelernt, dass fehlende operative Basics Recruiting zum Scheitern bringen, man aber darüber hinaus auch die richtigen Strategien und eine geeignete Verankerung innerhalb der Organisation braucht.

Wie lässt sich Recruiting als business-relevante Stelle im Unternehmen positionieren? Welche Tipps hast du, Michael?

Auf Recruiting-Organisationsebene kann Recruiting seine Wertschöpfung nachweisen, etwa durch die Reduzierung der Cost-of-Vacancy – schnellere Besetzungszeiten, effizienteres Recruiting, Reduzierung der Kosten pro qualifizierter Bewerbung. Dafür muss man aber seine KPIs im Blick haben – und optimieren, wenn man das einmal aufs Tablett bringt. Recruiting hat auch Kostentreiber, aber wenn die im Griff sind, kann Recruiting direkt ein Business Case mit nachweisbarem ROI sein.

Das muss man sichtbar machen. Recruiting ist schlecht darin, über Wertschöpfungsbeiträge zu berichten – nicht nur “399 Bewerbungen im Monat”, sondern auch die Wertschöpfung aufzeigen. Aber es geht! Bei einem expansionsgetriebenen Retailer – zum Beispiel – können wir berechnen, dass Recruiting einen klaren Wachstumsimpact hat, weil wir besser und schneller rekrutieren.

Was sind die wichtigsten Kennzahlen, die man im Blick haben sollte?

Das kommt auf die Organisation und Problemstellung an. Time-to-hire ist immer die Unternehmenssicht, Time-to-fill ist die Kandidatensicht. Time-to-fill muss kurz sein. Laut neuester Studien beginnen Kandidaten nach drei bis vier Wochen Wartezeit im Bewerbungsprozess die Marke schlecht zu finden, wenn keine qualitative Rückmeldung kommt.

Je nach Zielgruppe braucht man verschiedene Kennzahlen: Die Recruiting-Leitung braucht Steuerungs- und Risikokennzahlen, operative Recruiter*innen brauchen operative Zahlen, das Top-Management eher den Wertbeitrag.

Ich bin ein großer Freund von kleinen Kennzahlen-Sets, aber großen Handlungen.

Michael Witt

Wenn man 15 Kennzahlen hat und sieben sind nicht in der Range, hat man plötzlich acht Projekte. Nur zu beobachten ist nicht das Ziel von Recruiting-KPIs – wenn eine Kennzahl aus der Range läuft, müssen wir handeln – dafür sind Kennzahlen da, nicht für lustige Charts.

Wie du deine Time-to-Hire reduzierst und effizienter einstellst

Tick, tack, tick, tack – im Recruiting-Alltag ist Zeit oft Mangelware. Während offene Stellen unbesetzt bleiben, springen potenzielle Top-Kandidat*innen ab: 48 % steigen nach dem Bewerbungsgespräch wieder aus, weil der Recruiting-Prozess zu lange dauert..

Wie wählt ihr aus, welche Tools sinnvoll sind – und braucht es mehr KI im Recruiting?

Wir schauen, wo die Pain Points sind. Beispiel Stellenanzeigen: Normalerweise braucht man ein anderthalb Stunden Interview mit Hiring Manager und Stelleninhabern pro Position, um wirklich guten Content für Stellenanzeigen zusammen zu bekommen. Bei 150 Stellen wird das schwierig. Dafür haben wir mit einem KI-Partner ein Tool entwickelt: Der Hiring Manager spricht beim Autofahren in einen Bot, das wird automatisch verarbeitet, im richtigen Tone-of-Voice ausgegeben, sogar mit weltweiten Benchmarks verglichen.

Viele Tools bieten Wertschöpfung, vor allem für Unternehmen, die über ihr Bewerbermanagementsystem solche Möglichkeiten nicht haben. Was kostet uns Zeit, was sind Redundanzen? Das wird ein Business Case, wenn ich von anderthalb Stunden auf 15 Minuten runtergehe.

Momentan spielen wir aber noch zu viel mit KI im Recruiting – wir haben Use Cases, aber keine Business Cases. Es kann nicht zielführend sein, dass ein Recruiter sieben verschiedene Log-Ins hat, um arbeiten zu können. Wir sind in der First Mover/Early Adopter Phase und probieren mal viel aus. Wenn man es seriöser angeht, stellt man sich diese Frage: Wo haben wir Redundanzen, wiederkehrende Prozesse, welche kosten viel Zeit? Da setzt man Technologie drauf.

Recruiting kann nicht die KI-Strategie für ein Unternehmen vorgeben. Recruiting muss fragen: Wie ist die KI-Strategie unseres Unternehmens? Was sind die Guidelines, mit welcher KI arbeiten wir? Da hinken die meisten Unternehmen noch hinterher.

Wie schafft ihr es, dass Hiring Manager echte Verantwortung für den Recruiting-Prozess übernehmen?

Durch das strukturierte Interview-Format, das wir durchgesetzt haben, fühlen sich Recruiter gestärkt in ihrer Kompetenz, das Gespräch zu führen. Sie begeistern die Hiring Manager durch die Gesprächsführung, weil diese in kurzer Zeit Jobs reflektieren können. Der Hiring Manager lernt dazu und erkennt den Mehrwert wieder.

Ich denke, Recruiting darf die anderen Stakeholder ruhig in die Pflicht nehmen und lästig bleiben: “Du hast nicht anderthalb Stunden Zeit, aber eine Stunde nimmst du bitte.” Das stärkt einerseits die Recruiting-Leute und darüber hinaus entsteht Begeisterung auf der anderen Seite.

Man kann es auf drei Ebenen machen: Qualitativ-operativ wie Ralf sagt, strategisch über Service Level Agreements und Hierarchie, oder organisational – da stellt man die Frage: Warum brauchen wir euch?

Ist Recruiting eigenständig mit eigener Governance, kann es fordern. Ist es eine nachgelagerte Admin-Einheit, tut es sich schwer.

Michael Witt

Michael, was war dein größter Recruiting-Fehler und was hast du daraus gelernt?

Recruiting-Fehler habe ich wahrscheinlich hunderte gemacht – Fehleinstellungen, Frühfluktuation, falsches Tool ausgesucht, Kampagne falsch investiert. Das gehört dazu, das sind AB-Tests. Die größten Probleme sind die Silos, die Ralf angesprochen hat. Daraus ist mein Lebenswelt-Modell entstanden – Employer Brand und Recruiting in einem zu denken.

Das Ziel ist erst mal, die Basics zu beherrschen: Recruiting-Prozess muss gut laufen, Candidate Experience muss stimmen, Stellenanzeigen so schreiben, dass jeder versteht, was man will. Wenn man das beherrscht, ist man schon einer der führenden Arbeitgeber. Ab dann beginnt die Exzellenz.

Wenn ihr eine Recruiting-Praxis aus der Welt schaffen könntet, welche wäre das?

Abstimmungen. Diese ganzen Meetings – ist die Stelle frei, ist sie nicht frei, ich brauche noch vier Unterschriften, wer macht das Onboarding? Dieses Meeting hätte auch eine E-Mail sein können. Von diesen Abstimmungen hat man im Recruiting leider viel, vor allem wenn Recruiting in zu vielen Säulen hängt.

Ich bin klarer Befürworter der eigenständig professionalisierten Recruiting-Organisation, die unter einem Dach mit Employer Branding und HR-Marketing arbeitet. Wenn du sagst “lass uns mal vier Sachen auf der Homepage ändern”, müssen acht Leute zu ihren Vorgesetzten rennen. Hast du es in einer Abteilung, ist es morgen umgesetzt.

Michael Witt

Das Silodenken würde ich abschaffen – und diese austauschbaren Positionierungen. Austauschbare EVPs. Das Fundament liegt in der Marke und Positionierung. Wenn mir eine starke Idee fehlt, hinter der die Leute stehen, die einfach dazu anregt mitzumachen – dann tut mir das Recruiting leid. Wir sehen genug austauschbare EVPs: alle wollen “die Zukunft gemeinsam erfinden”, “Team“ sowieso. Das sind keine Ansagen, wo ich sage, das bringt was.

Arbeitgeber sollten sich über die Gesamtmarke so darstellen, dass sie einen guten Ruf haben und hinter einer Idee stehen, bei der ich mitmachen will. Das ist das Fundament, das bis ins Recruiting runterreicht.


Das Interview zeigt: Erfolgreiches Recruiting 2026 braucht strategische Organisation, authentische Markenführung und die Bereitschaft, etablierte Silos aufzubrechen. Die Experten sind sich einig: Wer die Basics beherrscht und ganzheitlich denkt, hat die besten Chancen im Kampf um Talente.

Ralf Tometschek

Ralf Tometschek ist seit 2025 Partner bei bold position® – strategy for brand & talent. Er berät Unternehmen seit über 30 Jahren zu Markenpositionierung und Arbeitgeberattraktivität. Dabei fokussiert er aus Sicht der Corporate Brand das Zusammendenken von Employer Branding, Recruiting & KI. www.boldposition.at

Michael Witt

Michael Witt ist Geschäftsführer der Recruiting Strategie- und Organisationsberatung Lebenswelt Recruiting und seit über 20 Jahren im Recruiting tätig. Er berät und begleitet Recruiting-Organisationen mit dem Fokus auf Recruiting Strategie und Organisationsentwicklung. Für seine Arbeit wurde der Blogger und Autor mehrfach ausgezeichnet – u.a. mit dem HR Excellence Award „Strategie des Jahres“. Er ist Supplybrain® Partner von bold position®. www.lebensweltrecruiting.com

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